„Umschreiben“ der Geschichte des Zweiten Weltkrieges im siebzigsten Jahr der Befreiung

Das „Umschreiben“ der Geschichte des Zweiten Weltkrieges nimmt in einigen Staaten der Europäischen Union Formen an, die den Organisationen der Überlebenden und der Angehörigen der Opfer nicht gleichgültig sein können. Vor wenigen Tagen hat die Fédération Internationale des Résistants (FIR) an die polnische Regierung in einem Offenen Brief appelliert, die Nicht-Einladung des russischen Staatspräsidenten zur internationalen Gedenkverstanstaltung anlässlich des 70. Jahrestages der Befreiung des KZ und Vernichtungslagers Auschwitz durch sowjetische Truppen zu überdenken. Doch die polnische Entscheidung fügt sich ein in eine Reihe bedenklicher Entwicklungen sowohl innerhalb der EU als auch in Ländern, deren Regierungen von der EU unterstützt werden. Die Leitung des Wiener KZ-Verbands hat im Mitglieder-Rundbrief vom Jänner 2015 dazu Stellung genommen:

Deutsche Regierung schweigt zu grotesker Geschichtsverdrehung von Jazenjuk im deutschen Fernsehen
Eine ganz spezielle Form von Geschichtsunterricht erteilte der ukrainische Ministerpräsident Arseni Jazenjuk am 7. Jänner in einem Fernsehinterview anlässlich seines Besuchs bei Bundeskanzlerin Merkel. Die Vertreibung der Deutschen Wehrmacht aus der UdSSR, einschließlich der Ukraine, und die Rettung der letzten Überlebenden der Konzentrations- und Vernichtungslager durch die Rote Armee sei keine Befreiung, sondern ein Akt russischer Aggression gewesen: „Wir“, meinte Jazenjuk, „können uns alle sehr gut an den sowjetischen Einmarsch in die Ukraine und nach Deutschland erinnern“. Etwas Ähnliches, deutete er an, müssen man auch in der Gegenwart „vermeiden“.
Tatsächlich „marschierte“ die Rote Armee in das nationalsozialistische „Reichskommissariat Ukraine“ ein, in dem ukrainischen Faschisten sich bei der Ermordung der jüdischen (und in der Westukraine auch polnischen) Bevölkerung besonders hervortaten. Ungewollt stellte der ukrainische Ministerpräsident damit auch all jene bloß, die die Sorge vor dem Einfluss rechtsextremer Kräfte auf die Politik der gegenwärtigen ukrainischen Regierung als „russische Propaganda“ abtun.

„Totalitarismusgedenktag“ statt Holocaustgedenktag
2009 hat das EU-Parlament beschlossen, an die Stelle des Holocaustgedenktages am 27. Jänner einen für alle EU-Länder verbindlichen „Gedenktag für die Opfer totalitärer und autoritärer Regime“ am 23. August einzuführen. Steht der 27. Jänner für die Befreiung des KZ Auschwitz durch die Rote Armee am 27.1.1945, so soll der 23. August an die Unterzeichnung des so genannten „Hitler-Stalin-Pakts“ durch die Außenminister Deutschlands und der Sowjetunion am 23.8.1939 erinnern, der geheime Abmachungen über dritte Staaten, darunter die baltischen Republiken und Polen, enthielt. Damit soll die Verantwortung für die Entfesselung des Zweiten Weltkrieges zu gleichen Teilen auf Hitlerdeutschland und die UdSSR aufgeteilt werden — gerade so, als hätte es das so genannte „Münchner Abkommen“ nicht einmal ein Jahr zuvor nicht gegeben, in dem sich England und Frankreich mit Hitlerdeutschland darauf einigten, die mit ihnen verbündete Tschechoslowakei zu zerstückeln.
Trotz starken politischen Drucks ist der „Totalitarismusgedenktag“ weitgehend unbeachtet geblieben. Nun hat aber Polen die aktuellen Auseinandersetzungen der EU mit Russland als Möglichkeit begriffen, die Erinnerung an den überragenden Anteil der sowjetischen Armee an der Befreiung Europas 1944/45 langfristig auszulöschen. Die erste Gelegenheit hierzu bietet die Gedenkfeier in Auschwitz am 27.1.2015:

70 Jahre Befreiung von Auschwitz: Polnische Regierung lädt statt des russischen den deutschen Präsidenten zum Festakt
Der russische Präsident wurde zu den Feierlichkeiten anlässlich des 70. Jahrestages der Befreiung des Konzentrations- und Vernichtungslagers nicht eingeladen. Die internationale Föderation der Widerstandskämpfer (FIR) verlangt in einem Offenen Brief, diese Entscheidung noch einmal zu überdenken: „Die polnische Regierung mag ja politische Differenzen zur heutigen Politik Russlands haben, aber es ist eine Missachtung nicht nur der militärischen Befreiungsleistung der sowjetischen Streitkräfte, sondern aller Menschen, die sich in den Reihen der Anti-Hitler-Koalition für die Befreiung ihres jeweiligen Landes eingesetzt haben, wenn aus kurzsichtigem politischem Kalkül historische Wahrheiten geleugnet oder verfälscht werden.“ Für besonders schockierend hält die FIR die Tatsache, dass derjenige Staat, „der sich selber in der Rechtsnachfolge des verbrecherischen Regimes des deutschen Faschismus sieht, nämlich die Bundesrepublik Deutschland, mit ihrem höchsten Repräsentanten zu diesem Festakt eingeladen ist.“